Gemüse auf dem Teller und im Glas

Raphael Briner

10.10.2019

Rhabarberlikör, Bärlauchgeist und Tomatenbrand: Das Schweizer Schnaps Forum lotet die Palette der Destillate in der ganzen Breite aus, jüngst am Anlass «Leaf to root». Begleitet wurden die Schnäpse von Kreationen des Vegi-Kochs Pascal Haag.

Nostalgie und moderne Kochphilosophie bot der Anlass «Leaf to root» den Mitgliedern und erfreulicherweise angelockten Gästen des Schweizer Schnaps Forums (SSF). Einerseits konnten sie in der freien Degustation den im Jahr 2000 mit Gold prämierten «Rüebli aus Maienfeld» der Gemüsebrand-Pioniere und SSF-Urgesteine Margrit und Martin Kunz-Keller verkosten. Anderseits brachte ihnen Pascal Haag, Vegi-Koch und Rezeptentwickler, seine nachhaltige Gemüseküche in Theorie und Praxis näher. Und selbstverständlich gab es viele nicht alltägliche Destillate zu degustieren.

Spezielle Kreationen in fester - Brie mit Fenchelgrün-Meringue und Fenchel-Apfel-Chutney - und flüssiger Form.

Leaf to root ist das fleischlose Pendant zu Nose to tail, einer Mitte der 1990er-Jahre entstandenen Küchenphilosophie, die nicht mehr nur auf Filet und andere Edelstücke setzt, sondern eben das Tier von der «Nase bis zum Schwanz» verwertet. Auf Vegetarisch bedeutet dies, auch das Kraut, die Stiele und die Schalen von Gemüsen zu kochen. Dies bietet einerseits eine geschmackliche Bereicherung, anderseits ist es ein Beitrag zur Verminderung des Abfallberges.

Präsident Patrick Zbinden moderierte den von Vorstandsmitglied Florian Walpen organisierten Anlass im Restaurant Ziegel oh Lac in Wollishofen am Zürichsee. Die Runde verkostete blind vier Mal drei Destillate. Begleiter war je eine Haag’sche Kreation, die gewisse Hinweise auf den Inhalt der Gläser gab. Dazwischen erklärte der Vegi-Koch seine Philosophie und gab Tipps zu deren Umsetzung.

Paradebeispiel Radieschen

Im Folgenden die von Bemerkungen der anderen Verkoster beeinflussten Notizen des Schreibenden mit Exkursen zur Vom-Blatt-zur-Wurzel-Küche.

Das Rezept für den Willkommensdrink im Buch «Leaf to root».

Willkommensdrink: Gurkenschalen-Limetten-Drink mit Ingwer-Schnaps: Frisch, Minze, Heu, leicht süss. Der Ingwergeist von der Humbel Spezialitätenbrenneri ist ein Zwischenprodukt, das zum Beispiel für das Blenden von Gin verwendet wird.

Vor der 1. Runde äusserte sich Haag zu seiner Philosophie, die unter anderem zur Vermeidung von Food Waste beitragen soll. Als Paradebeispiel für Leaf-to-root nannte er das Radieschen. «Es macht null Sinn, das Kraut zu entfernen und die Radieschen dann zu einem grünen Salat zu geben», sagte der Koch. Sein Tipp: Das Kraut als Salatgrün verwenden («besser als Rucola») oder damit einen Pesto zu machen.

Runde 1: Tomate, Gurke, Rhabarber

Speise: Kartoffel-Crostini mit Cashew-Aufstrich und Tomatenkern-Chutney

Tomatenbrand, Brunschwiler Edelbrandbrennerei. Ungewohnt und daher schwer zu identifizieren. Nase: Würzig, eindimensional. Gaumen: Vegetabile Noten, Schärfe, kurzer Abgang.

Gurkengeist, Faude feine Brände. Wieder ein äusserst «exotisches» Produkt. Drei am Tisch tippten auf Spargel, einer erkannte die Gurke. N: Frisch, erdig. G: Süsslich, weich, schalige Aromatik, erinnert im Abgang (wie noch einige der folgenden Produkte) an Vodka.

Rhabarberlikör, Faude feine Brände. N: Erdig, fruchtig. G: Moderate Süsse mit leichter Bitterkeit, fruchtig, ölig, mittlerer Abgang.

Pascal Haag.

Runde 2: Spargel, Bärlauch, Fenchel

Speise: Brie mit Fenchelgrün-Meringue und Fenchel-Apfel-Chutney

Spargelgeist, Marder Edelbrände. Dieses Produkt war einfacher zu erkennen. N: Erdig, leicht muffig (verschwindet mit Luft), Schokolade. G: Süsslich, pfeffrig, langer Abgang. Auffallend die Harmonie zwischen Nasen und Gaumen.

Bärlauchgeist, Lipp Weingut und Destillerie. Die meisten tippten auf (angerösteten) Knoblauch. N: Intensiv, stark röstig, Knoblauch, eindimensional. G: Süsslich, leicht alkoholisch, kräftig.

Fenchelgeist, Lipp Weingut und Destillerie. Der Schreibende hätte, wenn er das Thema des Abends nicht gekannt hätte, auf einen anisbetonten Kräuter getippt. Anis brachte die Runde dann aber rasch auf Fenchel. N: Anis, Fenchel, Lakritze, leicht seifig. G: Süsslich, weich, etwas Schärfe im langen Abgang.

Die drei verkosteten Rüeblidestillate, wovon eines mit starken Rosennoten auffiel

Runde 3: Karotten

Speise: Karotten-Gerste mit Karottenkraut-Salsa-Verde und Meerrettich

Aargauer Bio-Rüeblibrand, Humbel Spezialitätenbrennerei. Ziemlich schnell kam die Runde auf Karotte. N: Erdig, vegetal (Rüeblikraut). G: Süsslich, leicht scharf, elegant, mittlerer Abgang.

Rüeblibrand, Brunschwiler Edelbrandbrennerei. Hier machte es die Rose in der Nase nicht leicht, die Sorte zu erkennen. N: Floral, fruchtig. G: Weich, etwas adstringierend, langer Abgang.

Rüebli/Carottes, Spezialitäten-Brennerei & Distillerie Zürcher. N: Röstig, nussig, hefig, gekochte Karotte. G: Süsslich, weich, voll, erdig, leichte Schärfe, langer Abgang. Einige meinten, einen Muffton ausgemacht zu haben.

Geschichte und Esskultur waren das Thema des nächsten Gesprächsteils mit Haag und Zbinden. Für das Buch «Leaf to Root: Gemüse vom Blatt bis zur Wurzel» hat vor allem Ko-Autorin Esther Kern viel Recherche betrieben. Die Frage war, welche Gemüseteile früher verwendet worden waren und/oder in anderen Ländern heute verkocht werden. Die Römer bauten zum Beispiel Karotten nur an, um das Kraut zu gewinnen. Klar wurde, dass die Menschen früher aus finanziellen Gründen einfach alles in einen Topf geschmissen und gekocht hatten, weil sie nichts verschwenden wollten. «Nicht immer ist das Ergebnis fein», sagte Haag, der sehr viel an seiner Leaf-to-root-Küche herumpröbelt. Es geht darum herauszufinden, welche Teile man wie verwenden kann, so dass das Ergebnis schmackhaft ist. Die Bananenschale etwa wird in Nepal in Curries verkocht. Weil ihm dies nicht schmeckte, überlegte der Koch, wie er die Schale anders verwenden kann. Das Ergebnis: Karamelisiert in einem Kokosmuffin.

Diesen gab es zwar nicht zu kosten, doch wartete Haag in Runde 4 mit einer anderen, sehr interessanten Dessertkreation auf. Vorher betonte er, dass das A und 0 der Leaf-to-root-Küche Bioprodukte seien. Weil auch die Schalen verwendet werden, sind ökologisch erzeugte Gemüse noch wichtiger als in der «konventionellen» Küche. Hier kommt ein monetärer Aspekt ins Spiel. Zwar ist bio teurer. Doch weil das ganze Gemüse verwendet wird, bekommt man zum höheren Preis nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ mehr.

Haag sagte weiter, dass Giftigkeit «ein grosses Thema» sei. Man müsse aufpassen, was man verwende, besonders bei Nachtschattengewächsen wie Tomaten, Kartoffeln oder Auberginen. Einerseits ist der Geschmack des Tomatenkrauts sehr intensiv «tomatig», anderseits hat dieses einen sehr hohen Gehalt an giftigem Solanin. «Es ist möglich, das Kraut zu verwenden, aber es ist eine Gratwanderung», sagte der Vegi-Koch.

Runde 4: Kartoffel, Topinambur, Rande

Speise: Schokoladen-Randen-Mousse mit Amaranth-Birnen-Kompott und süssen Randenblättern

Kartoffel / Pommes de terre, Spezialitäten-Brennerei & Distillerie Zürcher, gebrannt mit nicht verkaufbaren Bergkartoffeln aus dem Albulatal. N: Banane, Erdnuss, erdig (Steinpilz). G: Süsslich, sehr aromatisch, leichte Schärfe, wenig Druck, kurzer Abgang.

Topinambur, Brunschwiler Edelbrandbrennerei. N: Vegetal, wie beim Rüebli floral, Wachs. G: Weich, ölig, Schärfe im mittleren Abgang.

Die Rande, Edelbrand, Brennerei Lüthy. Hier war es nicht so schwierig, die Sorte zu erkennen. N: Erdig. G: Süsslich, kräftig, langer Abgang mit Pfeffer.

Organisator Florian Walpen, SSF-Präsident und Moderator Patrick Zbinden, Vegi-Koch Pascal Haag, v.l.

Fazit

Einmal mehr ein spannender SSF-Abend mit sehr speziellen Produkten. Zwar möchte der Schreibende die meisten dieser Destillate nicht als Digestif nach einem Essen trinken (Ausnahmen sind der Rhabarber und der Fenchel). Doch sie haben ihre volle Berechtigung als Spezialitäten, die in der Küche zum Abschmecken von Speisen dienen oder als Horizonterweiterung und Diskussionsstoff verkostet werden.

Literatur: Esther Kern, Sylvan Müller, Pascal Haag. Leaf to Root: Gemüse vom Blatt bis zur Wurzel. AT Verlag, Aarau.

Zur Übersicht aller Artikel